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Als Dachdecker-Junggeselle nach Italien

Wussten Sie/Ihr schon, dass Erasmus-Programme nicht nur Studenten offen stehen, sondern auch engagierten Junggesellen? Kein Grund, einem versäumten Auslandsaufenthalt nach der Schule nachzuweinen – das lässt sich nachholen. Zwar nicht für ein ganzes, aber immerhin für ein Viertel-jahr. Zeit genug, um neue Erfahrungen zu sammeln und eine Sprache zu lernen!
Die Handwerkskammer Region Stuttgart bietet engagierten und reiselustigen Nachwuchshandwerkern ein attraktives Erasmus- Programm in Volterra/Toscana an. Unser Junggeselle Yannick hat daran teilgenommen und würde es jederzeit wieder machen denn: “Man lernt dabei Dinge, die man in der Ausbildung in Deutschland so nicht lernt”. Neben dem Italienisch-Unterricht gibt es auch spannende Exkursionen im Gastland.

Nach der Gesellenprüfung ins Ausland

September 2017. Um den Monatsersten herum sitze ich stirnrunzelnd an meinem PC. Warum stimmen die Stunden für die Lohnabrechnung nicht? Plötzlich klopft es an meiner Türe – eine willkommene Unterbrechung ! Yannick steckt seinen Kopf herein. Bestimmt braucht er eine neue Arbeitshose oder irgendeine Bescheinigung. „Frau Berner, ich hab hier einen Packen Unterlagen. Könnten Sie sich das mal durchlesen?“ fragt er. „ Ich möchte gerne ins Ausland und brauche Ihre Unterstützung!“. Mein Herz schlägt schneller, ich bekomme Ohren wie ein Luchs und schaue ihn etwas irritiert an. Er will uns verlassen – so kurz nach der Gesellenprüfung?
Ich werfe einen prüfenden Blick auf die Unterlagen. „Handwerkskammer Region Stuttgart“ steht auf dem Umschlag. „Erasmus“ lese ich auf dem ersten Blatt – dieser Begriff kommt mir bekannt vor. Und „Volterra“ – da war ich doch schon in Urlaub? Erleichtert lehne ich mich zurück und lasse mir von Yannick erklären, was er vor hat.

Ein Programm für motivierte Handwerker

Er wolle sich bei der Handwerkskammer für dieses Erasmus-Programm beworben, erklärt er. Und er führt weiter aus: „Das ist speziell für junge Handwerkern und Handwerkerinnen konzipiert. Sie sollen unter 25 Jahre alt sein und im Sommer ihre Gesellenprüfung abgelegt haben. Dass wir uns mit unserem Handwerk identifizieren und in diesem auch bleiben wollen, ist ebenfalls ein entscheidendes Kriterium.“ Der Aufenthalt in der Toskana finde vom kommenden Januar bis März statt. Sein Motivationsschreiben habe er schon verfasst und wäre nun dankbar für eine positive Stellungnahme des Betriebes. Im Übrigen sei morgen Bewerbungsschluss!

Toskana im Winter

Vor meinem inneren Auge wellen sich die sanften Hügel der Toskana mit ihren Zypressenalleen. Ich schmecke einen kräftigen Brunello auf meinem Gaumen und lasse leckere Pasta auf meiner Zunge zergehen. Um mich herum höre ich fröhliche Menschen lachen. Mein Blick geht wieder zurück zu den Unterlagen. Eine super Sache! Im Winter geht es bei uns im Betrieb sowieso etwas ruhiger zu. Von daher würde es passen. Aber Toskana im Winter? Ist da nicht „tote Hose“? Da ist doch bestimmt nichts mit Strand und „dolce vita“, so wie Yannick das vielleicht vom Sommerurlaub her kennt! Wird er da nicht enttäuscht sein? Ich verspreche, mich umgehend mit seinem Anliegen zu beschäftigen und ihm schnell Bescheid zu geben.

Eine neue Art der “Wanderschaft”

Beim obligatorischen Brezelfrühstück sprechen mein Mann und ich über Yannicks Anliegen. Als Chef findet er das sofort gut – in die Fremde gehen, sich von den Eltern abnabeln und den eigenen Horizont erweitern– das sei doch super! „Wenn man dabei noch eine andere Sprache lernen und sich auf eine fremde Arbeitsweise einlassen kann, ohne alles „besser zu wissen“, bekommt man tatsächlich einen anderen Blickwinkel“, meint er. Das habe doch viel mit den früheren Gesellenjahren und der Wanderschaft zu tun! Nicht zu unterschätzen sei auch der mögliche Nutzen für uns als Betrieb: Soziale Kompetenzen durch das Zusammenleben in der Gruppe erwerben und später im Team anwenden. Auch einmal „der Ausländer sein“. Sich einfühlen lernen in die Situation derer, die mit einer anderen Muttersprache bei uns im Betrieb arbeiten. Neue Erkenntnisse gewinnen und später einbringen. Unser klares Votum steht schnell fest: Wir sind dafür, dass Yannick sich bewirbt!

Die Erasmus-Gruppe ist ein Team!

Ob er denn reale Chancen hat, einen Platz zu bekommen? Ich greife zum Telefonhörer. Frau Rotmann von der Handwerkskammer Region Stuttgart erläutert mir gerne die Auswahlkriterien. Klar, das Motivationsschreiben ist wichtig, bestätigt sie. Und hier gelten nicht die knappen Kommunikationskriterien der Baustelle! Es dürfen schon ein einige ausführliche Sätze darüber sein, warum sich unser Junggeselle ausgerechnet für dieses Programm interessiert. Und es sind noch weitere Gesichtspunkte maßgebend: Wie ist das Erscheinungsbild der Person? Hat er/sie Hobbies, die zeigen, dass er/sie in Gruppen klarkommt? Außerdem achtet die Kammer auf die Ausgewogenheit der Handwerksberufe und eine stimmige Anzahl von Frauen und Männern in der Gruppe.

Wird auch alles funktionieren?

Die Bewerbung läuft. Manchmal finde ich mich in den Gedanken einer Mutter wieder. Haben die Organisatoren auch alles im Griff? Wo wohnen die jungen Leute? Verstehen sie sich untereinander? Lernen sie in den fremden Betrieben auch etwas, oder werden sie womöglich ausgenutzt? Kann man denn in drei Monaten überhaupt italienisch lernen? und vieles mehr… Aber irgendwie wäre ich als Mutter doch sehr stolz auf meinen Sohn, wenn er ausgewählt würde.

Ein Geselle namens Erasmus

Und es klappt! Eine Woche später erhält Yannick die Zusage. Seine Bewerbung war so gut, dass mit ihm  in diesem Jahr 16 Teilnehmende aufgenommen wurden. Nun beginnt die Feinarbeit für mich. Wie soll ich ihn freistellen? Wie läuft das mit der Sozialversicherung, dem Finanzamt, der Sozialkasse des Dachdeckerhandwerks? Wie kann ich die nur davon überzeugen, dass ich einen Beschäftigten habe, der drei Monate keine Arbeitnehmerbeiträge bezahlen wird, ohne jedoch gekündigt zu sein? Von einem Gesellen namens „Erasmus“ hatten die alle noch nichts gehört. Überall betraten wir Neuland – und von überall erhielten wir positives Feedback.

Der Gruppengeist entsteht

Inzwischen lernte Yannick bei einem Kennenlernwochenende seine zukünftige „WG“ kennen. Erfahrene Trainer betreuten die Gruppe. Es wurde gemeinsam gekocht, gelacht und bereits über die Fahrgemeinschaften in die Toskana gesprochen. Alle hatten Lust, mitzuwirken und schnell bildete sich heraus, was man „Gruppengeist“ nennt. Kurze Zeit später begann Yannick, sich im Betrieb seinen Werkzeugkasten zusammenzustellen und online italienisch zu lernen.

Ciao

Und dann kam der 4.1.2018, als er alles in seinen knallroten Ford Focus einlud und sich bei + 1 Grad mit einem mutigen „Ciao!“ auf den Weg über die Alpen machte. Am nächsten Tag erreichten uns die ersten Fotos. Über den Messenger „Telegram“ (übrigens eine gute Alternative zu WhatsApp) sollten wir in den kommenden Monaten in Verbindung bleiben. Wie sich interessante Arbeitsaufträge, Exkursionen und „dolce vita“ abwechselten, zeigt mit vielen wunderbaren Fotos der Blog der Handwerkskammer Region Stuttgart. Hören und sehen Sie in einem Interview mit den Dachdeckern Philipp und Yannick, wie es ihnen während ihres Aufenthaltes erging.

Der Blick zurück

Juli 2018. Wieder sitze ich in meinem Büro am PC. Dieses Mal grüble ich nicht über die Lohnabrechnung, sondern über diesen Blogartikel. Vieles hat mir Yannick nach seiner Rückkehr berichtet, worüber ich schreiben will. Einiges ist mir dennoch unklar geblieben. Ich greife zum Telefonhörer – und – als sei es Gedankenübertragung: Yannick ist schon in der Leitung!

Straßen und fremde Sprache als Herausforderung

Ich würde gerne wissen, was für ihn die größten Herausforderungen bei seinem Aufenthalt waren. Da kommt sofort: „Die Straßen!“ Stimmt. Sein Auto wurde stark gefordert, das hat er schon beklagt. Manche Straßen waren so schlecht, dass sie große Balken für das Dach sogar das letzte Stück von Hand zum Haus tragen mussten. Der Kranwagen konnte nicht bis zur Villa Palagione vorfahren. Wohl dem, der „Muckis“ hat!

Zu genau und zu schnell?

Als zweite Herausforderung fällt ihm sofort die andere Arbeitsweise ein. Die beiden deutschen Dachdecker waren zu genau und zu schnell. Sie mussten zuerst ein paar „Gänge herunterschalten.“
Als weitere Herausforderung nennt er – trotz Italienischkurs – die fremde Sprache. So ganz alleine als Dachdecker mit einem italienischen Vorabeiter zu arbeiten verlangt doch einige Fachbegriffe und spezielle Redewendungen. Sich mit small talk in der Alltagssprache zu verständigen, ist viel einfacher. Das hat schon bald funktioniert, sogar mit Fremden!

Feingefühl entwickeln

Die letzte große Herausforderung, die ihm spontan einfällt, war das Leben in der Gruppe. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass es nicht einfach ist, zu unterscheiden, ob einer „sich vor dem Spülen drücken will“ oder heute tatsächlich mal müde ist und in Ruhe gelassen werden sollte. Da ist viel Einfühlungsvermögen in die Kameraden nötig. Deshalb betont Yannick: „Ich schätze mal, dass für mich der größte Lerneffekt in der sozialen Kompetenz liegt, die ich bei dem Aufenthalt erworben habe.“

Im Blog der Handwerkskammer habe ich von vielen Erinnerungen gelesen, die den „Erasimini“ (so heißen die Teilnehmer des Erasmus-Programms) „auf ihrem weiteren Lebensweg niemand mehr nimmt.“ Dieser Satz hat meine Neugier geweckt. Ob Yannick seine Erinnerungen mit mir teilt?
Ich habe Glück! Manche teilt er…

Die schönsten Erinnerungen und Erfahrungen

Eine der schönsten Erfahrungen, sagt er, sei für ihn der herzliche Empfang in Volterra gewesen. Von Anfang an im Ort dazuzugehören war für ihn ein geniales Gefühl. „Wir waren überall bekannt“, betont er. Zu vielen Festen und Essen, gerade bei den „Naturfreunden“, in deren Haus sie auch wohnten, wurden sie eingeladen. Der Bekanntheitsgrad des Projekts wird an einer Begebenheit deutlich, von der er mir erzählt: Eines Tages seien einige „Erasmini“ in eine Polizeikontrolle geraten. Sie waren in einem deutschen Auto unterwegs und die würden nämlich gerne geklaut. Ihre Papiere wurden verlangt und sie warteten geduldig auf eine Reaktion des Polizisten. Da sagte jemand: „Zeig denen doch mal deinen Projektausweis!“ Und siehe da – dieser wirkte wie ein Passierschein. Der „Carabinieri“ winkte „subito“ weiter.

Volterra verändert

Wieder einmal sitze ich mit meinem Mann bei unserer obligatorischen Brezel zusammen. Ich beschreibe, was ich schon geschrieben habe und frage ihn neugierig: „Hast du denn bei Yannick Veränderungen festgestellt, seit er wieder zurück ist?“ Er überlegt kurz. Dann nickt er zustimmend und sagt: „Er arbeitet eigenständiger. Er hat mehr Selbstvertrauen. Und er ist bestrebt, eigenständig Lösungen zu finden.“
Was will man mehr? Das deckt sich mit dem, was Yannick mir am Schluss unseres Gespräches gesagt hat: Er habe mehr „in sich selbst hineingefunden.“ Auch privat sei er klarer in seinen Entscheidungen geworden. Er wisse, was und wohin er wolle. „Und doch habe ich noch Zeit, denn ich bin noch jung!“ betont er. Wie schön, das von sich sagen zu können!

Auf “Erasmus” kann man bauen

Nicht nur weit – sondern auch hoch hinaus – so könnte der Weg von Yannick bei uns im Betrieb weitergehen. Wer weiß, vielleicht kann er bald in die Fußstapfen des Vorarbeiters treten? Er ist auf dem besten Wege dorthin. Eine der wichtigsten Aufgaben des Vorabeiters ist die Mitarbeiterführung. Die erworbene soziale Kompetenz ist dazu Gold wert.

Quellen: Fotos Handwerkskammer Region Stuttgart